Es gibt viele Menschen, die heute trotz teilweise ernsthafter (in der Regel chronischer) Erkrankungen nicht nur ein höheres Lebensalter erreichen als früher, sondern diese zusätzliche Zeit an Lebensjahren auch mit einer höheren Lebensqualität in Selbstständigkeit verbringen können. Was die Mundgesundheit angeht, so stehen derzeit vor allem Pflegebedürftige und Senioren in Pflegeheimen im Fokus der Diskussion. Obwohl diese Thematik von hoher Relevanz ist, scheint es gleichzeitig auch angemessen, präventive und restaurative Strategien für ältere und hochbetagte Menschen, die (noch) nicht oder nur in geringem Maß auf Betreuung und Pflege angewiesen sind, zu beleuchten. Folgende Fragen sind dabei unter anderem von Interesse: Welchen Einfluss hat das Erreichen eines hohen Alters auf orale Strukturen und biologische Prozesse der Mundhöhle? Welche zahnärztlichen Interventionen sind im Alltag eines älteren Patienten empfehlenswert und gleichzeitig umsetzbar? Diesen Fragen widmet sich der vorliegende Beitrag mit speziellem Augenmerk auf bedarfsgerechte präventive und restaurative Aspekte.
Frage zum Behandlungskonzept
Welche Faktoren stehen bei der präventiven und restaurativen Betreuung älterer und hochbetagter Patienten im Vordergrund?
Prof. (apl.) Dr. Cornelia Frese: Bei der Diagnostik und Behandlungsplanung sollten biologische Parameter wie beispielsweise Speichelquantität und -qualität sowie allgemeinmedizinische Faktoren, zum Beispiel Polypharmazie, miteinbezogen werden. Im Hinblick auf die Prävention sollten die Möglichkeiten der altersgerechten Ernährungslenkung, der mechanischen Plaquekontrolle und der pharmakologisch-chemischen Interventionen einschließlich der adäquaten Fluoridierung umfänglich ausgeschöpft werden. In der restaurativen Versorgung spielen zunehmend bedarfsgerechte direkte Interventionen eine Rolle.
Bereits heute liegt zwischen den sogenannten jüngeren Senioren und den Hochbetagten eine bemerkenswerte Zeitspanne von 35 Jahren [1]. Hinzu kommt, dass mindestens die Hälfte der jüngeren Bevölkerung, die nach dem Jahr 2000 geboren wurde, statistischen Hochrechnungen zufolge das hohe Alter von 100 Jahren erreichen wird [2,??3]. Für Europa zeigen aktuelle Erhebungen eine durchschnittliche Zahl von 17,3 Hundertjährigen pro 100 000 Einwohner, mit der höchsten Prävalenz von Hundertjährigen in Frankreich (28,2), Italien (25,4) und Griechenland (23,0). Deutschland liegt mit 16,8 Hundertjährigen pro 100?000 Einwohner knapp unter dem Durchschnittswert der EU.
Die überwiegende Mehrheit der Hundertjährigen und Hochbetagten lebt bis weit über 90 Jahre funktionell unabhängig und weitgehend selbstständig in privaten Haushalten [4]. Auch nationale epidemiologische Querschnittsuntersuchungen der Bevölkerung, wie die Deutschen Mundgesundheitsstudien, können einen Anstieg an relevanten Daten in den höheren Alterskohorten verzeichnen. Im Jahr 2015 wurde im Rahmen der Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie erstmals zwischen jungen Senioren von 65 bis 74 Jahren und älteren Senioren von 75 bis 100 Jahren unterschieden [5].
Insbesondere im Bereich der Mundgesundheit ist festzustellen, dass ältere Menschen eine steigende Zahl eigener natürlicher Zähne teils verbunden mit speziellen oralen Erkrankungen aufweisen, die eine Herausforderung für die präventive und restaurative Zahnheilkunde darstellen [6]. Mehr oder weniger manifeste Mundhygienemängel, gefolgt von oralen Erkrankungen wie Gingivitis, Parodontitis und speziellen Formen von Zahnhartsubstanzdefekten, wie zum Beispiel Wurzelkaries, treten auf.
Altersspezifische Aspekte
Speichel
Einen bedeutenden Einfluss auf die Mundgesundheit übt die altersbedingte Abnahme des Speichelflusses aus. Dabei sind unstimulierte und stimulierte Fließraten sowie antimikrobielle Proteine (Histatine und Muzine) und zahlreiche Elektrolyte (Na, K, Cl, Ca) reduziert [7]. Die altersbedingte Abnahme der Speichelfließraten erscheint bei Frauen deutlicher ausgeprägt als bei Männern [7,??8].
Multimedikation
Mit steigendem Alter treten vermehrt chronische Erkrankungen auf, und die Zahl der täglich eingenommenen Medikamente steigt an. In Deutschland kommt es bereits bei circa 42 Prozent der jüngeren Senioren ab 65 Jahren zu Polypharmazie, wozu auch frei verkäufliche Over-The-Counter (OTC)-Präparate gezählt werden [9]. Aus medizinischer Sicht stehen unter anderem unkalkulierbare Wechsel- und Nebenwirkungen sowie eine unzureichende Berücksichtigung der Pharmakokinetik bei älteren und hochbetagten Menschen im Vordergrund [9]. Aus Sicht der präventiven Zahnheilkunde zeigen Studien, dass bei der Einnahme von vier oder mehr verschiedenen Wirkstoffklassen mit höherer Wahrscheinlichkeit Hyposalivation, Xerostomie und/oder eine Reduktion qualitativer und quantitativer Speichelparameter auftreten können [7,??8,??10,??11]. Im Vergleich dazu weisen ältere Menschen, die keinerlei Medikamente einnehmen, Speichelfließraten im Normbereich auf [1].
Welchen präventiven Bedarf haben wir in der Zukunft zu erwarten?
Bei der präventiven Betreuung älterer Patienten gilt es orale Erkrankungen wie Gingivitis, Parodontitis, karies- und nicht kariesbedingte Zahnhartsubstanzdefekte, endodontische Erkrankungen und Zahnverluste mit Lückenbildungen zu vermeiden oder zumindest in ihrem Ausmaß zu begrenzen [12]. Oftmals stellt der Zahnarzt bei älteren Patienten durch oben genannte altersspezifische Besonderheiten stetig zunehmende Mängel im Bereich der Mundhygiene und einen Anstieg kariöser Läsionen zum Beispiel im Bereich der freiliegenden Wurzeloberflächen fest. Im Rahmen des Gesamtmanagements müssen sowohl bedarfsgerechte präventive als auch restaurative Maßnahmen ergriffen werden, um pathologische Einflussfaktoren zu reduzieren und protektive Einflussfaktoren zu erhöhen [13]. Zusätzlich zu einer engmaschigen präventiven Betreuung unter Berücksichtigung von Ernährungsberatung und Plaquekontrolle (einschließlich Professioneller Zahnreinigungen und Mundhygieneinstruktionen) haben sich die gegenwärtigen Strategien zur Kariesprävention gemäß der aktuellen S2k-Leitlinie zur Kariesprophylaxe bei bleibenden Zähnen bewährt [14].
Etablierten und evidenzbasierten Fluoridierungsmaßnahmen bei hohem Kariesrisiko wie beispielsweise der Anwendung spezieller hochkonzentrierter Zahnpasta mit 5?000 ppm Fluorid sowie einer regelmäßigen Applikation von hochkonzentrierten Fluorid- (22?500 ppm) und Chlorhexidinlacken (1?%) sollte der Vorzug gegenüber momentan stark beworbenen, jedoch mit noch vergleichsweise limitierter Evidenz ausgestatteten neuen Wirkstoffen, zum Beispiel Hydroxylapatit, gegeben werden [1416]. Dazu konnten Ekstrand et al. in einer Studie mit älteren Probanden mit einem mittleren Alter von 73 Jahren (65 bis 89 Jahre) zeigen, dass die Verwendung einer speziellen hochkonzentrierten Fluoridzahnpasta mit 5000 ppm Fluorid zu höheren Fluoridkonzentrationen im Speichel führte. Die Autoren schlussfolgerten, dass diese Fluoridlevel im Speichel hoch genug sein könnten, um bei älteren Menschen das Fortschreiten von Wurzelkaries einzudämmen [17].
Frugale Interventionen
Um den oralen Erkrankungen älterer und hochbetagter Patienten unter realistischen Bedingungen Rechnung zu tragen, können auch sogenannte frugale Interventionen von Bedeutung sein [18]. Darunter versteht man in der Medizin und Zahnmedizin Maßnahmen, die nachhaltig (sustainable), bezahlbar (affordable) und adäquat beziehungsweise gut genug (good enough) sind. Dabei müssen nicht alle derzeit angepriesenen Hightech-Optionen zum Einsatz kommen. Zuweilen sind sogar Lowtech-Interventionen vorzuziehen (siehe Patientenbeispiel). Es geht dabei nicht darum, auf minderwertige oder billige Produkte und/oder Dienstleistungen zurückzugreifen, allerdings stehen auch keine Premium-Leistungen im Vordergrund. Bei frugalen Interventionen handelt es sich vielmehr um qualitätsorientierte präventive und restaurative Konzepte, die bedarfsgerecht an die Voraussetzungen und Erwartungen von Patienten angepasst sind.
Für den Bereich der präventiven Zahnheilkunde bedeutet dies, dass die Möglichkeiten der mechanischen und chemischen Plaquekontrolle unter Berücksichtigung altersentsprechender Faktoren ausgeschöpft werden. Für den Bereich der restaurativen Zahnheilkunde ist absehbar, dass substanzschonende Interventionen, meist mit direkt vorgenommenen Techniken, bei Senioren mehr Anwendung finden werden als früher.
Ein praktisches Beispiel für eine frugale Intervention bei einer 92-jährigen, weitgehend gesunden Patientin mit präventivem und restaurativem Behandlungsbedarf zeigen die Abbildungen 1a bis t. Die Patientin gab an, kaufunktionell wegen insuffizienter Versorgung der Zähne 45 und 46 sowie ästhetisch wegen eines deutlichen schwarzen Dreiecks zwischen den Zähnen 41 und 43 (Zahn 42 fehlt) eingeschränkt zu sein (a bis e). Es wurde auf aufwendige prothetische und chirurgische Eingriffe verzichtet. An den Zähnen 41, 43, 45 und 46 wurden Restaurationen aus direkt eingebrachtem Komposit hergestellt. Voraussetzungen für eine erfolgreiche Versorgung waren dabei unter anderem die absolute Trockenlegung (f), die Verwendung von anatomisch geformten Teilmatrizen und Separationsringen (g und h), der Einsatz von Approximalkontaktformern (i und j), die Anwendung von speziellen oszillierenden Diamantfeilen (Sonic-Shape, Komet) zur Ausarbeitung (k und l) sowie die Nutzung geeigneter Modellierinstrumente (OptraSculpt, Ivoclar Vivadent) (m). An präventiven Maßnahmen bestand bezüglich Ernährung und Fluoridierung kein Verbesserungsbedarf. Neben einer Professionellen Zahnreinigung wurde ein Mundhygienetraining mit Auswahl passgenauer Interdentalraumbürsten und eingehender Demonstration zur Verbesserung der Interdentalraumhygiene vorgenommen (n und o). Die Seniorin ist mit dem Behandlungsergebnis sehr zufrieden (p bis t).
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