Oralmedizin kompakt: Hintergründe und Perspektiven zum Thema Leitlinien
Von „Entscheidungen, die man bereut“ berichtete auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für orale Epidemiologie und Versorgungsforschung (DGoEV) Anfang Mai in Berlin Prof. Dr. Daniel Reißmann. Das Leitlinien-Upgrade „Festsitzender Zahnersatz für zahnbegrenzte Lücken“ nennt der Leipziger Prothetiker eine reizvolle Aufgabe.
Zugleich war die Koordination zeitintensiv und die Datenerhebung methodisch anspruchsvoll. So dürfen für Brücken-Festzuschüsse in der deutschen GKV maximal vier Zähne fehlen, Patienten mit Freiendsituationen sind ausgeschlossen. Die daraus resultierenden sieben Befundklassen werden in internationalen Studien nicht immer eindeutig abgebildet.
Das am Ausgangspunkt „geschlossene Zahnreihe“ orientierte, befundbezogene und damit offene Vorgehen steht laut Reißmann im Gegensatz zu einem therapiebezogenen. Dieses fokussiert auf die Versorgungsprognose, zum Beispiel Keramik- als Alternative zu Titanimplantaten.
Kurz und klar
- Leitlinien stellen dar, „was nach aktuellem Stand mehr oder weniger wahrscheinlich zum Therapie-Erfolg führt“.
- Im Fokus stehen versorgungsrelevante Fragen aus dem Alltag.
- Praktizierende Ärzte sollten daher schon bei der Projektierung eingebunden werden.
- Das gilt auch für Patienten, die zum Beispiel kein Interesse an wirtschaftlich motivierten Behandlungen haben.
- Leitlinien dienen bei Rechtsstreitigkeiten häufig als Referenz, korrigierender Einfluss ist über medizinische Stellungnahmen möglich.
- Formale Vorgaben stellen hohe Ansprüche an Leitlinien-Beteiligte.
- Interessenkonflikte durch Industriebeteiligung sind in der oralen Medizin besonders häufig und bei der Leitlinienerstellung zu berücksichtigen.
Patientenfälle als Basis
Leitlinien sollen laut Dr. Cathleen Muche-Borowski von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) strukturierte Entscheidungshilfen für die tägliche Praxis geben. Für einen Teil klinischer Fragen, zum Beispiel im Bereich restaurative Zahnheilkunde, sind zahlreiche kontrollierte Studien und systematische Übersichten verfügbar, wenn auch in sehr unterschiedlicher Qualität.
Dagegen entsprechen Fallserien oder Schilderungen praktischer Fälle für die Behandlung von Patienten mit mehrfacher Behinderung der bestverfügbaren Evidenz (PD Dr. Peter Schmidt, Witten/Herdecke). Das betrifft auch die in Überarbeitung befindliche multidisziplinäre „Kinderschutzleitlinie“, deren Vorlage auf S3- und damit auf höchstem methodischem Niveau verfasst wurde (Dr. Rainer Schilke, Hannover).
Neue Formate für die Praxis
Nur am Rande thematisiert wurden auf der DGoEV-Tagung neue, praxisgerechte Empfehlungsformate. Dafür werden aus Leitlinien versorgungsrelevante Fragen extrahiert und nach dem Muster der DGZMK-Kompaktempfehlungen kurz und knapp beantwortet.
Die vom Institut der Deutschen Zahnärzte (IDZ) gemeinsam mit DGZMK, BZÄK und KZBV angekündigten „Behandlungspfade“ sollen evidenzgestützt klinische Protokolle mit Einzelmaßnahmen im „Kitteltaschenformat“ abbilden. Intensiv diskutiert wurden in Berlin dagegen Interessenkonflikte bei der Erstellung von Leitlinien und deren rechtliche Relevanz für die Praxis.
Mit medizinischen Leitlinien werden hohe Ziele verfolgt, darunter Wissensvermittlung und „Förderung der guten klinischen Praxis“. Angestrebt wird laut AWMF zudem eine „Stärkung der Patientenstellung“ und „bessere Versorgungsqualität“. Um dies zu erreichen, sollen Leitlinienautoren vorhandenes Wissen zu klinischen Fragestellungen („Versorgungsproblemen“) bewerten und „unter Abwägung von Nutzen und Schaden“ das aktuell beste Vorgehen definieren.
Auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für orale Epidemiologie und Versorgungsforschung im Mai in Berlin war zu erfahren, wie Leitlinien Schritt für Schritt entwickelt werden und welche Stolpersteine zu beachten sind. Neben und auch im Rahmen der Vorträge wurde aus dem Nähkästchen der Leitlinienpraxis geplaudert, ohne heikle Themen auszuklammern.
Literatur
[1] German Medical Service: https://www.egms.de/static/en/journals/awmf/2019-16/awmf000322.shtml. In: AWMF GMed 2019. (accessed 20240624)
[2] AWMF e.V. Das AWMF-Regelwerk Leitlinien Version 2.1, 20230905 https://www.awmf.org/regelwerk/ . (accessed 20240624)
[3] National Collaborating Centre for Methods and Tools, University M. AGREE II Instrument; https://www.agreetrust.org/wp-content/uploads/2014/03/AGREE_II_German-Version.pdf . 2014.
[4] AWMF. Auswahl und Kritische Bewertung der Evidenz https://www.awmf.org/regelwerk/auswahl-und-kritische-bewertung-der-evidenz (accessed 20240624). 2024.