Zur Versorgung einer unilateralen Nichtanlage eines unteren zweiten Prämolaren stehen prinzipiell verschiedene Behandlungskonzepte in der modernen Zahnheilkunde zur Auswahl. Dieser Beitrag soll einen Überblick über die Vor- und Nachteile der einzelnen Therapieoptionen geben. Gleichzeitig wird am Beispiel eines Patientenfalls der einseitig durchgeführte kieferorthopädische Lückenschluss mit einer vollständig individuellen lingualen Apparatur in Kombination mit einer Herbst-Apparatur dargestellt.
Fragen zum Patientenfall
Welche Vorteile sehen Sie in der Anwendung der vollständig individuellen lingualen Apparatur?
Dr.?Susanna Isabell Richter: Eine der klassischen Nebenwirkungen einer Behandlung mit der Herbst-Apparatur sind die protrusiven Kräfte auf die Unterkieferfrontzähne. Die Einstellung der bukkolingualen Position dieser Zähne ist mithilfe einer individuell hergestellten Apparatur und der entsprechend genau gefertigten Brackets und Bögen deutlich erleichtert. Individuell geformte Bögen erlauben vorhersagbare Drehmomente. Das wird besonders an dem Lächeln der Patientin deutlich. Trotz erfolgten Lückenschlusses gleicht es nicht dem typischen Extraktionslächeln mit eingefallenen Bukkalkorridoren. Gleichzeitig ermöglicht die individuelle Bogengestaltung den Erhalt der ursprünglichen Kieferform der Patientin, sodass die Rezidivgefahr deutlich geringer ist als bei der Verwendung von konventionellen Bracket- und Bogensystemen, bei denen die Zahnbögen häufig überexpandiert werden. Und zu guter Letzt ist das fünffach niedrigere Kariesrisiko nicht von der Hand zu weisen. Unser Ziel war es schließlich, dass bis auf die Entfernung des Milchmolaren keine weiteren zahnärztlichen Maßnahmen notwendig werden sollten.
Falldokumentation Lückenschluss
Die Patientin stellte sich im Alter von 13,5??Jahren in der kieferorthopädischen Facharztpraxis vor. Im Rahmen der Erstuntersuchung wurden die Nichtanlage des Zahns 35 bei Persistenz des zweiten Milchmolaren 75, ein ausgeprägter Tiefbiss sowie auf der rechten eine nahezu volle und auf der linken Seite eine ¾-Prämolarenbreite-Klasse-II-Okklusion festgestellt (Abb.1 bis 8). Radiologisch waren die Zahnanlagen 28, 38 und 48 ersichtlich.
Die Behandlung erfolgte mit der vollständig individuellen lingualen WIN-Apparatur (DW Lingual Systems) in Kombination mit der Herbst-Apparatur (modifiziertes MiniScope) als Verankerung. Erst nach Einbringen der lingualen Apparatur im Ober- und Unterkiefer im indirekten Klebeverfahren wird normalerweise die Entfernung des persistierenden Milchmolaren 75 angewiesen. In diesem Fall hatte bereits die natürliche Exfoliation des Milchzahns stattgefunden, sodass dieser Schritt unterblieb. Zur Vermeidung von okklusalen Interferenzen wurden halbokklusale Pads auf den zweiten Molaren beider Kiefer angebracht. Die Nivellierung der Zahnbögen erfolgte entsprechend der Empfehlung des DW Lingual Systems durch Einsetzen des 0.012 SE-Niti im Unter- und des 0.014 SE-Niti-Bogens im Oberkiefer sowie des 0.016 x 0.022 SE-Niti in beiden Kiefern. Ziel in der Leveling- und Aligningphase ist das Sammeln der Zähne 34 bis 44. Nach Insertion der 0.016 x 0.024-Stahlbögen wurde die Herbst-Apparatur eingegliedert. Distal des Zahns 34 wurde manuell mithilfe der Masel-Zange ein Knick erster Ordnung in den Stahlbogen eingebracht. Diese Biegung dient als Rezessionsprophylaxe für die mesiobukkale Wurzelfläche des ersten Molaren bei der angestrebten Mesialbewegung. Der Lückenschluss wurde sukzessive mit der Doppelkabelmechanik durchgeführt. Dafür wurden Gummiketten (Morita Energy Chain) sowohl auf der lingualen Seite am ersten Prämolaren und am Bogenende des zweiten Molaren als auch auf der vestibulären Seite am bukkal angebrachten 2-D-Clip am ersten Molaren und dem unteren Herbst-Aufnahmeelement befestigt (Abb.9). Es wurde darauf geachtet, dass der 2-D-Clip auf der mesiobukkalen Fläche des ersten Molaren fixiert wurde. Durch den leicht exzentrisch versetzten Kraftansatzpunkt entsteht neben der nach ventral gerichteten Zugkraft eine minimale Mesiorotation des ersten Molaren. Diese dient ebenso wie der zuvor beschriebene Knick erster Ordnung in dem Unterkieferstahlbogen als Rezessionsprophylaxe der mesiobukkalen Wurzelfläche des ersten Molaren bei der Mesialbewegung. Das initiale Kraftniveau pro Gummikette betrug 1,5 Newton. Dementsprechend erfolgte der Lückenschluss insgesamt mit drei Newton. Um die Behandlungszeit so kurz wie möglich zu halten, wurde die Patientin alle drei Wochen zum Austausch der Doppelkabelmechanik einbestellt (Abb.10 bis 14).
Nach vollständigem Lückenschluss wurde der Unterkieferstahlbogen im dritten Quadranten vertikal verschlüsselt, um ein geringfügiges Wiederöffnen der Lücke während der gleichzeitig stattfindenden Klasse-II-Korrektur zu vermeiden.
Die Aktivierung der Herbst-Apparatur erfolgte entsprechend den Umbau- und Adaptionsprozessen etappenweise, wobei drei Monate post insertionem die Aktivierung auf eine halbe Prämolarenbreite, weitere drei Monate später eine beiderseitige Neutralokklusion im Eckzahnbereich und abschließend eine Überaktivierung als Rezidivprophylaxe eingestellt werden sollte.
Nachdem die Lücke vollständig geschlossen und die Neutralokklusion im Bereich der Eckzähne erreicht worden war, wurde die Herbst-Apparatur entfernt und 0.018 x 0.018 ß-Titanium-Bögen wurden im Ober- und Unterkiefer für die Finishingphase eingesetzt. Wichtig dabei ist erneut das vertikale Umbiegen des Bogens in dem Lückenschlussquadranten. Die Behandlungszeit mit der WIN-Apparatur betrug zwei Jahre und zehn Monate.
Retention
Zusätzlich zu den dauerhaft angebrachten festsitzenden 4-4-Kleberetainern im Ober- und Unterkiefer wurde im Bereich der Nichtanlage ein festsitzender 4-6-Kleberetainer eingegliedert. Dieser wird erst zwei Jahre nach erfolgreich durchgeführtem Lückenschluss beziehungsweise mit Durchbruch des Weisheitszahns entfernt. Auch die Elongationsprophylaxe des zweiten oberen Molaren bis zum Durchbruch des Weisheitszahns in dem Lückenschlussquadranten erfolgte durch das Anbringen eines temporären, vestibulären Kleberetainers. Beide Bukkalretainer wurden am Tag der Entbänderung chairside aus 16?x?22 Stainless Steel-Draht gefertigt und ribbonwise auf den betroffenen Zahnregionen angebracht (Abb.15 bis 19). Zusätzlich erhielt die Patientin aufgrund der zu Beginn der Behandlung ausgeprägten skelettalen Klasse II einen Nachtaktivator, der die sagittale Korrektur dauerhaft sicherstellen sollte (Abb.20).
Follow-up und Retentionskontrollen
Im jährlichen Recall werden sowohl die Stabilität des Behandlungsergebnisses als auch der Durchbruch des Zahns 38 kontrolliert. Die Abbildungen 21 bis 27 zeigen deutlich, dass auch 26 Monate nach Entfernen der festen Zahnspange eine Neutralokklusion im Bereich der Eckzähne und im Bereich der Molaren rechts sowie die Mesialokklusion im Bereich der Molaren links erhalten werden konnte. Das Durchschnittsalter für den Durchbruch der Weisheitszähne wird in der Literatur mit 19,8 bis 24 Jahren angegeben [23,22,14]. Da die Patientin in dem hier vorliegenden Fall sich noch nicht in dieser Altersgruppe befindet, sind weiterhin beide Bukkalretainer bis zum Durchbruch des Zahns 38 inseriert.