Der Kommentar von Chefredakteur Marc Oliver Pick
Das Jahr 2055 ist noch weit weg, trotzdem lohnt sich ein Blick um drei Jahrzehnte nach vorn, wenn es um die Entwicklung der Zahlen zur Pflegebedürftigkeit geht. Laut Hochrechnungen des Statistischen Bundesamts wird deren Zahl – allein durch die zunehmende Alterung der Gesellschaft – im Verlauf der kommenden 30 Jahre um 37 Prozent auf schließlich 6,8 Millionen anwachsen. Erst ab 2055 seien keine größeren Veränderungen mehr zu erwarten, weil die geburtenstarken Jahrgänge, die Babyboomer, dann von geburtenschwächeren Jahrgängen abgelöst werden, so die Projektion.
Mehr Kooperationsverträge und aufsuchende Betreuung
Auch wenn 2055 noch weit weg ist, bereits heute haben wir in Deutschland 5,7 Millionen Pflegebedürftige. Der kleinste Teil dieser Menschen wird in den heute rund 16.500 Pflegeeinrichtungen betreut. Rund 4,9 Millionen pflegebedürftige Menschen und damit der mit Abstand größere Teil (86 Prozent) werden aber zu Hause versorgt. Von diesen wiederum werden nur 1,1 Millionen zu Hause von Angehörigen, gemeinsam mit oder auch vollständig durch die rund 15.500 ambulanten Pflege- und Betreuungsdienste in Deutschland versorgt.
Erfreulich ist die konstant steigende Zahl von Kooperationsverträgen zwischen Zahnarztpraxen und Pflegeeinrichtungen, die laut Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung 2023 den bisherigen Höchststand von 6.904 erreicht hat und damit gegenüber 2022 noch einmal deutlich um 5,7 Prozent gestiegen ist.
Auch die Zahl der aufsuchenden Betreuung durch Zahnärztinnen und Zahnärzte, Besuche bei Pflegebedürftigen und Menschen mit Behinderung, hat laut KZBV 2023 mit 1,04 Millionen Besuchen einen neuen Höchststand erreicht. Allerdings entfielen von diesen Besuchen zwei Drittel auf die aufsuchende Betreuung in Pflegeeinrichtungen mit Kooperationsvertrag. Das bedeutet, dass der größere Teil der Pflegebedürftigen, die nicht in stationärer Betreuung, sondern zu Hause gepflegt wird, vermutlich keinen oder nur selten Zugang zu einer professionellen zahnärztlichen Betreuung hat.
Pflegegradverfahren als Impuls für zahnärztliche Betreuung
Hinzu kommt die Herausforderung, Menschen, die einen gewissen Pflegestatus erreicht haben, rechtzeitig zu identifizieren und möglichst schnell einer geregelten zahnärztlichen Betreuung zuzuführen, um größeren Schaden zu vermeiden, bevor er überhaupt entsteht.
Eine Möglichkeit, diese Herausforderung zu meistern, haben jetzt die zahnärztlichen Körperschaften in Westfalen-Lippe vorgestellt: Die Kassenzahnärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KZVWL), die Zahnärztekammer Westfalen-Lippe (ZÄKWL) und der Medizinische Dienst Westfalen-Lippe (MD) sind eine enge Kooperation eingegangen, um zahnmedizinische Versorgungslücken frühzeitig erkennen und präventiv handeln zu können. Denn Zeit ist für erfolgreiche Prävention ein zentraler Faktor, wie Dr. Holger Seib, Vorstandsvorsitzender der KZVWL, betont: „Wir müssen den Moment nutzen, wenn Pflege beginnt – nicht warten, bis der Schaden da ist.“ Die Kooperation mit dem Medizinischen Dienst bietet schon jetzt die Chance, bereits im Pflegegradverfahren einen Impuls in Richtung zahnärztlichen Betreuungsbedarf auszulösen und zeitliche Versorgungslücken zu vermeiden. Mehr und rechtzeitigere Informationen zu Versorgungsbedarfen sind hier der Schlüssel zu einer nahtlosen Versorgung.
Gleichzeitig ist diese neue Vorgehensweise ein Beleg für ein Umdenken. Gesundheit und orale Gesundheit werden nicht länger als isolierte Aspekte betrachtet, sondern konsequent zusammengedacht. Der Mensch wird in seiner aktuellen Lebenswirklichkeit betrachtet. „Die Mundgesundheit gehört für uns selbstverständlich dazu“, fasst es Dr. Martin Rieger, Vorstandsvorsitzender des Medizinischen Dienstes Westfalen-Lippe, zusammen.
Was in Westfalen-Lippe mit der Kooperation zwischen KZVWL, ZÄKWL und MD angestoßen wurde, könnte über die Grenzen der Region hinaus durchaus Vorbildcharakter auch für andere Regionen in Deutschland haben. Eine steigende Zahl von Pflegebedürftigen könnte somit unterbrechungsfrei zahnmedizinisch betreut und versorgt werden.
Marc Oliver Pick